Rock Writing

Fast jeder „Tag“ (Graffito Schriftzeichen) enthält die Eigenschaft sich damit Raum aneignen zu wollen. Ähnlich einem Wolfsrudel, das seinen Duft versprüht, nützten ursprünglich Straßenbanden „Tags“, um ihr Territorium zu markieren.

(Orig: Almost every tag contains an element that seeks to take possession of space. Similar to a pack of wolves spraying their scent, street gangs originally used tags to mark their territory. „Urban Caligraphy and Beyond“, Seite 17, Markus Mai, Arthur Remke, Verlag: Die Gestalten, Berlin 2003).

Graffiti ist nicht nur ein urbanes Phänomen. Zeichensetzung zur Territoriumsbestimmung ist eine uralte Kulturform. Es scheint ein tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis zu sein, seiner Identität durch Markierungen unterschiedlichster Form Ausdruck zu verleihen.

In den Bergen, dabei beziehe ich mich vor allem auf den alpinen Raum in Österreich, befinden wir uns dabei in einer paradoxen Situation. Einerseits wollen wir die Natur möglichst unberührt erleben, anderseits markieren wir alle Pfade und Steiglein mit auffälligen, meist rot-weiß-roten Farbstreifen, damit wir in der wilden Natur nicht vom rechten Weg abkommen. Aber auch der Fels scheint für viele ein Ort zur grafischen Selbstdarstellung zu sein. Das zweckdienliche, vordergründige Argument dafür ist den Einstieg einer Kletterroute zu kennzeichnen. Aber handelt es sich hier nicht auch um mehr? Die Ähnlichkeit mit den „Tags“ des Großstadtdschungels drängen sich dabei auf. Markiert hier nicht der Erstbegeher oder die Routenerschließerin sein/ihr Territorium?„Unterwerfen“ sie damit nicht, wenn auch nur symbolisch, ein Stück Natur?

Nur, warum sollte uns das verwehrt sein? Wir befriedigen ja dabei unseren immanenten Forscher- und Erschließerdrang, wenn wir in einen der letzen Freiräume vordringen – steile, noch unerstiegene Felsen. Kreatives Handeln ist ein Urbedürfnis des Menschen. Das kann niemand unterbinden. Einen neuen Durchstieg zu (er)finden, zu planen und auszuführen, ist sowohl eine sportliche, wie eine kulturelle Leistung. Sie gibt Ausdruck über die aktuellen alpinen Spieregeln, dem Kletterkönnen, der Risikobereitschaft und den Stand der Sicherungstechnik.

Was mich neugierig macht ist die ästhetische Qualität und alpinhistorische Bedeutung dieser Einstiegszeichen.

Was sagen sie mir? Gerade die alten, verblassten Zeichen haben die Aura von Höhlenmalereien. Kaum noch dechiffrierbar geben sie Auskunft über eine frühere Epoche, deren Schwierigkeitsbewertungen und Namen. Der modrige Geruch von Hanfseilen liegt in der Luft. Alte Zeichen werden überlagert. Neue Namen, neue Routen, neue Zeichen sind Ausdruck von Generationsablösen. Von den alten bleiben nur mehr Spuren erhalten. Bald kann man sie nur mehr erahnen.

Es gibt ein paar ikonische Rock Graffito wie der Schriftzug „Kiselak“ (als eher touristischer Tag), das Midnight Lightning Logo auf einem Boulder im Sunnyside Camp im Yosemite und den roten Punkt von Kurt Albert mit dem er der Freeclimbing Bewegung der 1970er Jahre im deutschsprachigen Raum ein Symbol gab. Mich interessieren aber viel mehr die Orte der Sehnsüchte der Wiener Kletterer nach den großen Bergen. Die Felsen der so genannten Wiener Wald Kletterschulen. Abgeschmierte, vom Schweiß der Generationen polierte kleine Felsen unter dem Laubdach der Bäume.

Heute sind die zunehmend blasser werden Namen der schwer auffindbaren Waldmühle, oder Streberwände kaum noch zu erkennen. „Berger“, „Mephisto“, „Pongo Überhang“. Erinnerungen werden wach. Es steckten nirgendwo Haken. Gesichert wurde „von oben“, das Seil wurde einfach um einen der vielen Bäume geschlungen. Der „Seufzer“ war für mich als zwölfjähriger das Teststück. Irgendwann konnte ich den Quergang überlisten.

Ich erinnere mich an die regelmäßigen Sonntagswanderungen in den frühen 1960er Jahren mit Gleichgesinnten – wir waren fast noch Kinder – von einem Felsen zum nächsten. An den Schmäh, den ironisch-zynische Humor der älteren Kletterer in Verbindung mit dem runden Wiener Dialekt und das Understatement über ihre Leistungen (Es gab nur drei Schwierigkeitsgrade: leicht, „schwa“ und „dünn“). Dazu der Geruch von Balkantabak der billigen filterlosen Austria 3 oder „C“ Zigaretten. Alle Kletterer schienen damals zu rauchen. Wissbegierig fragten wir sie über Routen auf der Rax aus. Damals für uns das absolute Hochgebirge. Bald aber sollte dort das Weichtalhaus unsere zweite Heimat werden. Da dokumentierten wir stolz unsere Taten durch einen Eintrag im Tourenbuch der Naturfreundehütte. Unsere erste alpine Zeichensetzung.